Im Rahmen von „Schule:Kultur“ laden wir immer wieder gerne Künstler*innen in die Schule ein, um über Lesungen, Workshops und anderen Kulturveranstaltungen gegen Diskriminierung und Rassismus zu arbeiten. Am Freitag war Orhan Müstak mit seiner Lesung „Simple“ zu Gast an der IGS Flötenteich.
Orhan Müstak tritt in den abgedunkelten Klassenraum eines Philosophie Kurses des 11. Jahrgangs. Nach einer kurzen Begrüßung durch die Kurslehrerin Frau Michel setzt der diplomierte Theaterschauspieler einen Stoffhasen auf das Pult, seine einzige Requisite, schlägt das Buch auf und beginnt zu lesen. Simpel, das ist ein 22-jähriger Mann auf dem geistigen Entwicklungsstand eines Dreijährigen, ist mit seinem jüngeren Bruder, der sich um ihn kümmert auf WG-Suche in Paris. Eine Herausforderung der besonderen Art. Er hatte zuvor einige Zeit in einer Anstalt für Menschen ist geistiger Behinderung verbracht und dort manche nicht näher definierte unangenehme Erfahrungen machen müssen. Mit der Zeit entwickelt sich nach anfänglichen Berührungsängsten und handfesten Diskriminierungen durch einige WG-Mitbewohner ein inniges und freundschaftliches Vertrauensverhältnis aller Beteiligten. Man kennt sich, nimmt sich so an wie man ist und erlebt viele heitere, aber auch skurrile Situationen – ein fast normaler WG-Wahnsinn. Die ungewöhnliche und dadurch vielleicht besonders tiefe Freundschaft und Liebe der jungen Menschen wird im Jugendroman von Marie-Aude Murail in der schier grenzenlosen Sorge des Bruders und seiner Mitbewohner deutlich, als Simpel eines Tages verschwunden ist. „Bitte, lieber Gott, bitte bring Simpel zurück!“ Orhan liest die packenden Dialoge mit verstellten Stimmen und lässt sogar den Stoffhasen, den treuen Begleiter des Protagonisten, zum Leben erwachen.
Die Schüler:innen lauschen knappe 60 Minuten gebannt Orhans Worten, sie lachen, stutzen, schweigen und man meint, bisweilen sei die ein oder andere Träne heruntergeschluckt worden. Schließlich die Erleichterung. Simpel wird mitten in der Nacht von zwei Prostituierten angesprochen, diese erkennen seine Hilflosigkeit und finden einen Zettel mit der Telefonnummer seines Bruders in seinen Taschen. Simpel kehrt nach Hause zurück, in seine WG, zu den Menschen, die ihn lieben. Die Erleichterung ist im ganzen Raum zu spüren…
Im anschließenden Publikums Gespräch öffnet sich alsdann ein Raum für Eindrücke, Fragen, Lob und eigene Erfahrungen. Wieso fällt es gesunden Menschen eigentlich oft so schwer mit Menschen mit Behinderung ganz normal umzugehen? Was können wir tun, um solchen Mitmenschen derart schmerzhafte Diskriminierungserfahrungen zu ersparen? Eine Schülerin berichtet, dass sie selbst mit einem Jugendlichen mit geistiger Behinderung zusammen lebe. Dieser sei von ihrer Familie aufgenommen worden, da ihn seine eigene Familie nicht wollte. „Deshalb ist mir die Geschichte von Simpel die ganze Zeit auch sehr nahe gegangen!“ berichtet sie und ringt um Fassung. Viele weitere Wortbeiträge berichten von Ängsten, Beobachtungen und Wünschen in einer Welt, die oft als herzlos und kalt empfunden wird. Man ist sich einig. Wir sind connectet. Zumindest für diesen Moment.
Herzlichen Dank an Orhans Müstak, der diesen Moment der Verbundenheit in Anbetracht fortschreitender empfundener oder reeller Spaltung der Gesellschaft durch seine spannende und sehr kurzweilige Lesung bei uns an der IGS Flötenteich geschaffen hat.